KUNST

 

Die Grässlis aus Wattwil sind eine Künstlerfamilie wie aus dem Bilderbuch. Alle arbeiten künstlerisch. Zwei von ihnen malen auf hohem Niveau: pointillistisch der Vater, abstrakt.expressionistisch der Sohn.

 

Von Hansruedi Kugler

 

«Mit Farben ist eigentlich schon alles gesagt.» Wer Michael Grässlis Vater kennt, muss über diesen Satz des Soh-nes herzhaft lachen. Er, der ganz auf Schwarz-Grau-Weiss und auf abstrakten Expressionismus schwört, hat einen Vater, der das Erschaffen von Farbnuancen selbst als seine Sucht bezeichnet. Walter Grässli ist ein minutiöser Farb-theoretiker. Seine Übungen mit Farbspektren sind bei Generationen von Kanti schülern in Wattwil legendär. «Was bringt Rot zum Glühen? Wie erschaffe ich ein haltbar leuchtendes Purpur?» Farbe, Farbe, Farbe – nicht gemischt, sondern im ausgeklügelten Nebeneinander im Auge des Betrachters erst entstehend. Simultankontrast oder Divisionismus nennt man das im Fachjargon, mit einer Wirkung wie bei den Pointillisten wie Georges Seurat. Seit seiner Pensionierung als Kantilehrer vor bald zehn Jahren gehört die «Pünktlimalerei» zu Walter Grässlis Hauptlei-denschaft, stundenlang, jeden Tag. Das Resultat: pure Farbmagie.

 

Spurensucher in urbanen Signaturen

 

Kein Wunder also, hat der malende Sohn des Farbexperten einen eigenen Weg finden müssen. Ganz Maler sagt er relativierend: «Der Satz über die Farben bezieht sich auf mich. Mein Vater erschafft den Raum durch Farbe, ich er-schaffe den Raum durch die Linie.» Für seine grossformatigen Gemälde brauche er seinen ganzen Körper, sagt Mi-chael Grässli. Die so entstehenden Gemälde könnte man mit Begriffen wie Action Painting oder Lyrische Abstrak-tion einordnen und Jackson Pollock oder Cy Twombly als Vorbilder vermuten. Tatsächlich lässt sich Michael Grässli aber von urbanen Signaturen inspirieren. Der ausgebildete Theatermaler, der im Theater St. Gallen für «Aida»,

«Zauberflöte» und «Rocky Horror Picture Show» Kulissen und später für die Filmindustrie Bühnenbilder gemalt hat, arbeitete kurzzeitig in Zürich mit Ausgesteuerten. Dabei übermalte oder entfernte er mit ihnen Graffiti. Diese anonymen Spuren reduziert er nun auf Schwarz-Grau-Weiss und kreiert so zurückhaltende, geheimnisvolle, aber suggestive und vollkommen abstrakte Kompositionen. So weit ins Abstrakte ging Vater Walter Grässli nie. Den Mut seines Sohnes aber bewundert er. In seinen eigenen Gemälden ist das Gegenständliche nie ganz verschwunden. Während seiner Ausbildung in Paris waren es Harlekine, später kamen Landschaften, Silvesterchläuse und ganze Zyklen zu Schuberts «Winterreise» hinzu. Seit ein paar Jahren dominieren in seinen pointillistischen Gemälden textile Motive.

 

 

Ihre zwei komplett verschiedenen Kunstrichtungen würden sich aber sehr gut ergänzen, sagen sie übereinstim-mend. Gemeinsame Ausstellungen zeugen davon. Ihre Lebenswege gleichen sich. Walter Grässli hatte wie  später sein Sohn eine Lehre  gemacht: In Werdenberg war er zuerst Schriftenmaler, die vielen Grautöne aber verleideten ihm. Die malende Verbindung von Vater und Sohn geht bis in die

Vater und Sohn Grässli - zwei Maler im Kontrast vereint

 

Minutiöser Pointillismus vom Vater, grossformatige, expressive Spraybilder vom Sohn: So verschieden ihre Stile auch sein mögen, in ihrer Doppelausstellung in Werdenberg ergänzen sich die Gemälde von Walter und Michael Grässli überraschend gut.

 

Die Gegenüberstellung wirkt sofort: Hier der junge, urbane Wilde – dort der akribische Tüpflimaler. Denkt man jedenfalls sofort, wenn man die Galerie betritt. Hier die malerisch grosse Geste, luftig und dennoch kräftig, farblich auf Weiss, Grau, Schwarz reduziert – dort die extrem dichte, kontrastreiche Abstraktion, die noch das Figurative erahnen lässt. Zwei Generationen und zwei Temperamente treffen aufeinander. Man könnte auch sagen: der junge abstrakte Expressionist und der junggebliebene Pointillist.

 

Walter Grässli, gerade 75 Jahre alt geworden, ehemaliger Kantilehrer für Gestaltung in Wattwil, hat seinem Sohn Michael den radikalen Kunstwillen sozusagen vererbt. Beide haben oder hatten ihren Hauptverdienst als Lehrer, beide sind Familienmenschen und beide stecken seit der Kindheit ihre Köpfe in unendlich viele Kunstbücher und die Pinsel in Farbtöpfe. Ohne Kunst könnten sie nicht leben. Walter Grässli hat sich seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren ganz dem Pointillismus verschrieben. Er, der jahrzehntelang das ausgeklügelte Nebeneinander von Farben studiert und gelehrt hat, ist ein Meister der Ausdauer geworden. Über viele Tage und Punkt für Punkt entstehen seine oft in textile Strukturen verwobenen Farbkompositionen. Für die aktuelle Ausstellung in Werdenberg hat er vorwiegend neuere, ab­strakte Gemälde ausgewählt.

 

Graffiti als Inspiration für malerische Spurensuche

 

Die passen denn auch gut zu den vermeintlich ungegenständlichen, grossformatigen Spraybildern seines Sohnes. Dass diese auf den ersten Blick wie Kritzeleien aussehen, mal aggressiv wie Stacheldraht, mal zart-harmonisch wie ein Notenbild oder ein Liebeswort, hat seinen Grund in der Inspiration für diese Gemälde.

 

Wie wenn Damien Hirst Walter Grässli kopiert

 

Nach vielen Einzelausstellungen haben die beiden Künstler vor drei Jahren zum ersten Mal gemeinsam ausgestellt. Die jetzige Ausstellung lebt vom Kontrast und der Ergänzung – und überzeugt dank der Beschränkung auf das Ab­strakte. Zwar feilen beide beharrlich an ihrem Stil. Das hindert den 75-jährigen Walter Grässli aber nicht, sich noch eine neue Technik beizubringen. Angeregt von den diesjährigen Schlossfestspielen, in denen Kuno Bont Verdis «La Traviata» inszeniert, hat er eine Bilderserie mit dem Titel «femme fatale» geschaffen. Gezeichnet hat er sie auf dem iPad mit dem Programm «Procreate», aber mit derselben pointilistischen Methode. «Ich habe genauso lange gebraucht wie für die anderen Gemälde», sagt er. Nur der Geruch der Temperafarben, die er jeweils selbst herstellt, habe gefehlt. Und augenzwinkernd zeigt Walter Grässli auf seinem iPad ein neues Video. Man sieht den berühmten britischen Künstler Damien Hirst auf Grossleinwand Pünktli malend – wie wenn er Walter Grässli kopieren würde